Controller schwebt über Hand

Hilfe, mein Freund ist spielsüchtig!

Ralf Schmidt, Diplomsozialarbeiter der Jugendhilfe Nordlicht e. V., erklärt die Dynamik von Spielsucht und hat gute Tipps, wie ihr helfen könnt.

Ist Spielsucht überhaupt eine Krankheit wie beispielsweise Alkohol- oder Drogensucht?

Ralf Schmidt: Die Weltgesundheitsorganisation hat Spielsucht als offizielle Suchterkrankung eingestuft. Und tatsächlich zeigt sie alle Begleiterscheinungen, die auch bei anderen Abhängigkeiten auftreten.

Welche sind das?

Das sind vor allem Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Interessenverlust an alltäglichen Dingen, Rückzug, Isolation …

Was ist das Gefährliche daran?

Spielsucht entwickelt sich schleichend. Wie bei anderen Süchten auch bist du nicht von einem Tag auf den anderen abhängig. Spiele sind überall verfügbar, sie sind nicht sozial verpönt – im Gegenteil: Alle spielen heute und es ist eine neue Form des sozialen Miteinanders, gemeinsam zu zocken. Inzwischen feiern sogar bekannte Fußballspieler ihre Tor-Erfolge mit den Moves virtueller Spielfiguren zum Beispiel aus Fortnite.

Wie viel Spielen ist „normal“?

Normal ist das, was Eltern und Erzieher selbst vorleben und welche Grenzen sie vorgeben. Vernünftige Zeitspannen und Limits, in denen maximal gespielt werden sollte, sind wichtig. Medienexperten empfehlen eine Orientierung nach folgender Faustformel: zehn Minuten Medienzeit pro Lebensjahr am Tag oder eine Stunde pro Lebensjahr in der Woche. Wichtig ist auch der jeweilige Inhalt der Games und deren Spannungs- und Anforderungspotenzial. Gerade jugendliche Gehirne können die massive Überdosierung durch Impulse und Reize oft überhaupt nicht verarbeiten.

Warum ist es ist schwer, sich dem zu entziehen?

Computerspiele vermitteln Kindern und Jugendlichen das Gefühl von Macht – auch wenn diese nichts mit der realen Welt zu tun hat. Erfolg in den Games wird oft anhand krimineller Handlungen gemessen wie vermeintlich „schuldige“ Widersacher zu töten, massive Hindernisse auf surreale Art aus dem Weg zu räumen, regelwidrig Auto zu fahren inklusive menschlicher Opfer und so weiter. Dieses Machtgefühl spricht auf subtile Art das menschliche Belohnungszentrum an und verstärkt den Sog, weiterzumachen. Letztlich kann diese Entwicklung in eine regelrechte Suchtspirale führen.

Warum lassen sich mehr Jungs davon verführen?

Bei jungen Männern sprechen die Abläufe, Rituale und Rollenklischees der Games Sehnsüchte nach Macht, Kraft, Potenz und kampfsportartigem Durchsetzungsvermögen an. Diese Situationen haben wenig mit ihrer Alltagsrealität zu tun. So stellt die „gespielte“ Identität letztlich eine Flucht aus eigenen Defiziten und Unzulänglichkeiten dar und kann auf fehlende Kraft und ein mangelhaftes Selbstbewusstsein hindeuten. Außerdem treibt die „männliche“ Wettkampfsituation die Jungs an, immer weiterzuspielen. Das kann dazu führen, dass echte Kontakte zu Freunden mehr und mehr durch abgeschottete Kleingruppen oder Einzelsitzungen vor dem Computer ersetzt werden.

Woran erkenne ich, ob mein Freund spielsüchtig ist?

Es gibt Alarmzeichen bei einer Abhängigkeit: etwa, dass derjenige die Schule vernachlässigt, eine Ausbildung abbricht oder das Studium schmeißt. Oder wenn er seinen Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr vernachlässigt. Es ist ein schleichender Prozess, den man frühzeitig unterbrechen sollte.

Wie spreche ich das Problem am besten an?

Wichtig ist, einfühlsam zu beschreiben, welche Veränderungen ihr als Beobachter von außen wahrnehmt – auf keinen Fall sollte man belehrend Einfluss nehmen. Einen Freund auf seine Sucht anzusprechen, ist natürlich ein heißes Eisen und ihr solltet einen ruhigen Augenblick abpassen. Aber gerade als Freund kann man fürsorglich sein, ohne Kontrolle ausüben zu müssen. Man ist praktisch auf Augenhöhe. Und dieses Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit ist eine Stärke.

Ihr könnt das Miterleben widerspiegeln, so nach dem Motto „Ich spiele doch auch, merke aber, was das mit mir macht. Ich spüre, dass es mir nicht guttut, und ich würde dir gern helfen.“ Das zeigt, dass man Ansprechpartner sein will. So ein Gespräch funktioniert bei gewachsenen Beziehungen besser als bei Menschen, zu denen man keine enge Beziehung hat. Und es hat auch mehr Chancen, als wenn Eltern versuchen, in diesem Stadium noch etwas zu bewirken.

Wie kann ich es vermeiden, abhängig zu werden?

Dies ist wiederum eine Frage der erzieherischen Grundlagen: Wer in einem gesunden sozialen Umfeld aufwächst, hat eher eine gute Selbstwahrnehmung und ein hohes Selbstvertrauen und kann dadurch offen und flexibel Kontakte zu Gleichaltrigen knüpfen. Das eröffnet eine breite Palette von Freizeitaktivitäten und Spielmöglichkeiten. Dabei kommt auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Clique ins Spiel und damit auch das Thema Gruppendruck.

Eine weniger gefestigte Persönlichkeit kann bei der Frage der Zugehörigkeit bereits ins Wanken geraten. Spiele ich, um Spaß zu haben oder um dazuzugehören oder sogar um mich selbst als jemand anderes zu positionieren und Respekt und Anerkennung zu erwerben? Sich darüber bewusst zu werden, kann helfen, die Suchtgefahr rechtzeitig zu erkennen. Wer spielen will, tut es auch. Die heikle Grenze, wann das Spielen zu viel Zeit und Energie von vorrangigen Aufgaben verbraucht, muss idealerweise jeder selbst erkennen. Das Ausmaß dieser freiwilligen Selbstkontrolle ist Ausdruck einer mehr oder minder ausgeprägten Sozialkompetenz.

Foto: Florian Gagnepain/Unsplash